Bindungen VIII – Nigredo

bindungen VIII – nigredo

eine lichtung im winter
purpurne nacht

schnee deckt die tafel
sinne erwacht

federn weiß
und augen schieferblau

meine seele spürt dich
aus schwarz und nebelgrau

verschlossner nachtrabe
unbekannter freund

erahnen uns in der peripherie

haben erkannt
vertraut

Die Reise nach Keku-semau

Rosenkönig 3

Irgendwann hatte sie keine Kraft mehr zum Schreien. Die Kammer dröhnte an allen Ecken und Kanten, plötzlich sprang die Türe einen asymmetrischen Spalt breit auf. Zoe schlüpfte durch das Loch, verließ den Schutzraum, der niemandem geholfen hatte. Ihr Körper war wie gerädert, selbst der schlimmste Muskelkater kam an dieses Gefühl nicht heran. Aber wenn es so weh tat, war das dann wirklich? Lebte sie noch?

Zoe taumelte weiter. Instinktiv wollte sie zum Bug des Zeppelins. Der einzige Mensch, der außer ihr eventuell noch leben konnte, war der Lotse. Sie kletterte über die schmale, steile Treppe in die Brückengondel hinunter.

Der Lotsenmeister lag rücklings neben dem Steuerrad auf dem Boden. Er schien ohnmächtig gewesen zu sein, kam gerade wieder zu Bewusstsein. Er war in einem erbärmlichen Zustand und hustete, ein leises, tiefverankertes Stöhnen, mehr Atem als Ton, entwich seiner Brust.

Zoe sprang die letzten zwei Stufen nach unten, und fiel neben dem Lotsen auf die Knie. Die schwarze, flexible Maske war von der rechten Gesichtshälfte des Mannes gerutscht, ihr Fehlen offenbarte grausam vernarbtes Fleisch. Der Lotse tastete mit fahrigen Fingern nach der Maske, fand sie neben seinem Kopf, und setzte sie wieder an Ort und Stelle. Der Boden unter ihnen schlingerte und stampfte. Das ganze Schiff dröhnte unter den immensen Belastungen, denen es ausgesetzt war.

„Könnt ihr aufstehen?“, keuchte sie. „Ihr müsst aufstehen! Das Schiff, es stürzt ab!“ Wie um ihre Aussage zu unterstreichen, tauchte der Bug so stark ab, dass sie beide auf dem Gondelboden in einem Ruck nach vorn rutschten.

„Lotsenmeister, ihr müsst aufstehen!“ Sie rüttelte an seinen Schultern, hing halb über dem Mann.

„Nein …“, murmelte er.

„Ihr müsst!“, schrie sie ihn an, „oder wollt ihr hier sterben?“

Ein seltsames, stilles Spotteslächeln berührte seine Oberlippe.

„Ich bin doch schon tot, Mädchen. Ihr auch, seht ihr das nicht? Sucht mich nicht heim.“

Zoe wurde in ihrer Verzweiflung wütend. Sie schüttelte den großen, dünnen Mann vor sich durch.

„Ich bin nicht tot! Ihr auch nicht! Das Schiff stürzt ab, es stürzt auf einen Planeten. Ihr müsst es landen!“

Der Lotsenmeister krallte sich abwehrend mit der rechten Hand oberhalb der Brust in ihrer Tunika fest. Er warf den Kopf mit zusammengebissenen Zähnen nach hinten gegen den Boden, sein Hals mit dem herausstakenden Adamsapfel wehrlos entblößt. Trotzdem malträtierte sie ihn weiter, es nützte ihnen beiden nichts, wenn er auf dem Boden lag und nichts tat. Ohne ihn hatten sie keine Chance zu überleben.

„Steht auf!“ Sie schlug ihre Hände durch seine Achseln, umschlang seinen schmalen Rücken und hievte den Mann brutal hoch.

„Steht auf!“, schrie sie weiter. Irgendwann stand der Lotsenmeister halb aufrecht. Er orientierte sich im Raum, wankte dann auf das Höhensteuerrad zu.

„Geht zum Seitensteuer“, krächzte er. „Auf wieviel Grad steht der Kurs? Haltet die Zahl genau … so, wie sie ist!“ Zoe war froh, dass der Kapitän alle interessierten Passagiere vor ein paar Tagen in die Brückengondel eingeladen und ihnen alles erklärt hatte. So wusste sie wenigstens in groben Zügen, wovon der Lotse sprach. Der Kapitän. Auch er tot wie alle anderen. Immer wieder warf der Lotse ihr abgehackte Anweisungen zu, die sie notdürftig befolgte. Aber der Zeppelin kippte immer weiter nach vorn. Das Gestänge kreischte, als es sich verbog, dann gab es reißende Geräusche und eine dumpfe, entfernte Explosion. Der Lotsenmeister drängte sie vom Seitensteuer weg.

„Das Schiff landet niemand mehr. Raus hier!“, rief er, und zog sie mit sich zur Tür.

(Aus der Geschichte „Die Reise nach Keku-semau“)